Die beschichteten Spanplatten sind mangelhaft

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Formaldehyd übersteigt den Grenzwert

Die ETB-Richtlinie stellt keine Rechtsvorschrift dar (vgl. Böckernförde in Gädtke/Böckenforde/Temme, BauO NW, 8. Aufl., § 3 Rdn. 31). Sie “gilt" lediglich als eine "allgemein anerkannte Regel der Technik" (vgl. § 3 Abs. 3 BauO NW) und muss deshalb als bloße technische Regel ohne Normcharakter zwingenden Rechtsvorschriften weichen.

 

Im übrigen kann jede eingeführte Technische Baubestimmung (ETB) durch technische Entwicklungen überholt sein (Böckenförde, a.a.O. Rdn. 31). Letzterer Tatbestand ist in Bezug auf das Prüfkammerverfahren gegeben. Das Prüfkammerverfahren nach der ETB-Richtlinie ist aufgrund neuerer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse (z.B. andere Anströmgeschwindigkeit) entsprechend der inzwischen veröffentlichten EG-Richtlinie verbessert worden, wie der Sachverständige in seinem 1. Ergänzungsgutachten vom 27.2.1990 (S. 4) naher ausgeführt hat.

 

Das Prüfkammerverfahren ist nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen (a.a.0.) im Kreis der Sachverständigen nicht strittig. Unter diesen Umstanden ist davon auszugehen, da die Beschränkung der Prüfverfahren auf das Prüfkammerverfahren durch den Verordnungsgeber in § 9 Abs. 3 GefStoffVO auf wohlerwogenen Überlegungen beruht und im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung ergangen ist, die gerade in den letzten Jahren gegen negative, vornehmlich gesundheitsschädliche Umwelteinflüsse besonders sensibilisiert worden ist.

 

Es erscheint deshalb geboten, die Sollbeschaffenheit von Holzwerkstoffen nach dem modifizierten Prüfkammerverfahren zu bestimmen. Schon vor Inkrafttreten der Gefahrstoffverordnung am 1.10.1986 war der vom Bundesgesundheitsamt (BGA) gemäß dessen Pressemitteilung Nr. 19/77 empfohlene Richtwert von 0,1 ppm (0,12 mg/cbm), der nach den Ausführungen des Sachverständigen im Ergänzungsgutachten vom 27.2.1990 (S. 5) identisch ist mit demjenigen, der in § 9 Abs. 3 GefStoffVO erwähnt wird, Grundlage aller meßtechnischen Festlegungen, wie der Sachverständige in seinem Hauptgutachten (S. 2} eingehend dargelegt und nachgewiesen hat.

Auf dieser Empfehlung beruht die ETB-Formaldehydrichtlinie aus dem Jahre 1980. Da anzunehmen ist, dass sich die Hersteller von Holzwerkstoffen schon vor Inkrafttreten der Gefahrstoffverordnung an die Empfehlungen des BGA gehalten haben, ist davon auszugehen, dass der in § 9 Abs. 3 GefStoffVO festgelegte Grenzwert schon vor dem 1.10.1986 den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprach.Infolgedessen ist auch der in § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO festgelegte Grenzwert bei der Beurteilung der Fehlerfreiheit eines vor dem 1.10.1986 hergestellten Holzwerkstoffes bzw. eines aus solchen Stoffen hergestellten Werkes zugrundezulegen.

Die Seitenwände und die Einlegeböden überschreiten den Grenzwert an Formaldehyd

cc) Nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass die Seitenwände und die Einlegeböden der beiden Schrankwände den Grenzwert des § 9 Abs. 3 GefStoffVO von 0,1 ppm eindeutig übersteigen. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen: in dessen zweiten Ergänzungsgutachten vom 26.11.1990 weisen die Seitenwände, die mit Lochreihen versehen sind, aufgrund der Probeentnahme vom 6.9.1990 und der anschließend vorgenommenen Messung mittels der Prüfkammermethode bei einem Schmalflächenanteil-an der Gesamtoberfläche von 10 % einen Prüfkammerwert von 0,22 ppm und die Einlegeböden einen solchen von 0,24 ppm auf.

 

Damit werden die Werte des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO erheblich überschritten. Das gilt erst recht für den Zeitpunkt der Abnahme, der ausweislich der schriftlichen "Abnahmeerklärung" des Klägers vom 13.1.1987 an diesem Tage stattgefunden hat. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen in dessen Hauptgutachten (S. 12), die er bei seiner persönlichen Anhörung bestätigt hat, klingt die relativ hohe Anfangsemission nach Ablauf von rund 2 Wochen (so Gutachten) bzw. ca. 4 Wochen (so Anhörungsergebnis) ab; danach stabilisiert sich das Emissionsniveau. Da der Beklagte die Schrankwände erst Anfang Januar 1987 montiert hatte, muss der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO am 13.1.1987 ganz erheblich überschritten gewesen sein, wenn er mehr als 3 1/2 Jahre später noch 0,22 bzw. 0,24 ppm betrug.

 

dd) Die Angriffe des Beklagten und des Streithelfers gegen das vom Sachverständigen praktizierte Prüfkammerverfahren (Referenzverfahren) vermögen nicht zu überzeugen. Nach § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffVO ist "die Ausgleichskonzentration ... nach einem Prüfverfahren zu messen, das dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht".

 

Soweit es in Satz 3 genannter Bestimmung weiter heißt, "das Bundesgesundheitsamt veröffentlicht im Einvernehmen mit der Bundesanstalt für Materialprüfung nach Anhörung von Sachverständigen Prüfverfahren, die diesen Anforderungen entsprechen", ist aufgrund der drei Gutachten des Sachverständigen und des Ergebnisses seiner Anhörung geklärt worden, dass das BGA das - modifizierte - Prüfkammerverfahren zwar bereits im Juni 1989 im Bundesgesundheitsblatt 6/89 veröffentlicht hat, das es für die Verbindlichkeit dieses Verfahrens im Sinne von § 9 Abs. 3 S. 2, 3 GefStoffVO aber bislang am Einvernehmen der BAM fehlt.

 

Es ist deshalb der Messung nach § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffVO ein Prüfkammerverfahren zugrundezulegen, das dem "Stand von Wissenschaft und Technik” entspricht. Diesen Anforderungen genügt das vom Sachverständigen praktizierte Referenzverfahren.

 

Bei dem Begriff "Stand von Wissenschaft und Technik" handelt es sich um das realisierbare Ergebnis neuester naturwissenschaftlicher Forschung und ingenieurwissenschaftlicher Erfahrungssätze, deren Akzeptanz durch die Mehrheit der Praktiker noch aussteht (vgl. BVerfG, NOW 1979, 359, 362; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 164 f.).

 

Der Sachverständige hat in seinem 1. Ergänzungsgutachten vom 27.2.1990 (S. 3 f.) überzeugend dargelegt, dass das im Bundesgesundheitsblatt 6/1989 veröffentlichte, zwischenzeitlich nur im sog. nichtamtlichen Teil ("vorläufige Materialkennwerte”) überarbeitete bzw. ergänzte und von ihm angewandte Prüfkammerverfahren praktisch die Anforderungen erfülle, die das Bundesverfassungsgericht in der vorstehend zitierten Entscheidung mit dem Begriff "Stand von Wissenschaft und Technik" verbindet. Das jetzige Referenzverfahren entspreche den neuesten Erkenntnissen der Technik und den Forschungsergebnissen der Wissenschaft und sei deckungsgleich mit der einschlägigen Richtlinie der EG.

 

Imübrigen sei es in die beabsichtigte 3. Novellierung zur Gefahrstoffverordnung 1991 aufgenommen worden. Mit Datum vom 15.1.1991 sei ein Konsens aller zuständigen Dienststellen erzielt worden und - noch Notifizierung bei der EG - in Kürze mit einer entsprechenden verbindlichen gesetzlichen Regelung zu rechnen. Unter diesen Umständen hat der Senat keine Bedenken, dass das vom Sachverständigen bei seiner jetzigen Messung zugrunde gelegte Prüfkammerverfahren die Anforderungen des § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffVO erfüllt, also dem "Stand von Wissenschaft und Technik" entspricht.

Die Raumluftmessung

ee) Der Einwand des Beklagten, die Überschreitung des Grenzwertes des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO wäre vermieden worden, wenn der Kläger, wie das bei den Türen, die mit einer Finishlackierung versehen wurden, geschehen ist, sämtliche grundierten Spanplatten mit einem besonderen Anstrich abgedichtet hatte, vermag die Gewährleistungspflicht des Beklagten nicht zu beseitigen.

 

(1) Der Sachverständige hat bei seiner Anhörung bestätigt, dass nach seiner Einschätzung bei einer ganz flächigen Einschließung, also einer allseitigen Abdichtung der Platten eine Raumluftmessung, einen Wert unter 0,1 ppm ergeben wurde, bei vollflächig beschichteten Platten mit den Maßen 2 x 1m mit offenen Kanten dürfe der Perforatorwert der Trägerplatte allerdings nicht 12 mg pro 100 g übersteigen; auch dürfe eine solche Platte nicht verkleinert werden.

 

Solche technischen Möglichkeiten, mit Hilfe einer Beschichtung (z.B. Finishlackierung) die Ausdünstung von Formaldehyd aus Spanplatten minimieren oder sogar ausschließen zu können, berühren nach Ansicht des Senates grundsätzlich nicht die Gewährleistung des Unternehmers, der mit solchen Spanplatten sein Werk herstellt. Überlässt der Handwerker/Unternehmer dem Bauherrn/Besteller die Beschichtung (Finishlackierung), verstoßen gleichwohl der Unternehmer und seine Vorlieferanten gegen § 9 Abs. 3 §. 1 GefStoffVO. Denn diese Personen geben die - noch zu behandelnden bzw. zu lackierenden - Spanplatten weiter und verwirklichen schon damit das Tatbestandsmerkmal "in den Verkehr bringen” im Sinne von § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO.

 

Ein solcher objektiver Gesetzesverstoß ist auf Seiten der Produzentin, der Streithelferin und des Beklagten festzustellen. Sie haben sämtliche Spanplatten weitergegeben bzw. beim Kläger eingebaut, obwohl jedenfalls die Seitenwände und die Einlegeböden den nach § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO höchstzulässigen Grenzwert überschritten haben bzw. heute noch überschreiten. Das gilt allerdings in Bezug auf die Streithelferin und deren Lieferantin, die Produzentin, nicht, wenn erst das Zerschneiden der Platten durch den Beklagten die unbeschichteten Stellen hervorgerufen hat.

 

Bereits diese Gesetzesverletzung löste die Gewährleistungspflicht des Beklagten nach § 633 Abs. 1 BGB aus, ohne das es auf eine nachfolgende Beschichtung (Anstrich) der Schrankwände durch den Kläger bzw. den von diesem beauftragten Maler ankam. Denn der Besteller will nach der allgemeinen Verkehrsauffassung seine Wohnung nicht mit Möbelstücken ausstatten, deren Holzwerkstoffe - auch ohne Finishlackierung - den Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO übersteigen.

 

Im übrigen sind die vom Beklagten verwendeten Spanplatten nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen in dessen 2. Ergänzungsgutachten vom 26.11.1990 (S. 5} auch deshalb fehlerhaft sind, weil entgegen Abschnitt 4.3 Absatz 2 und 3 der ETB - Richtlinie nicht an allen Stellen eine Beschichtung einschließlich aller Perforierungen vorliegt. Zwar sind die Einlegeböden allseitig ummantelt, jedoch sind die Seitenwände durch Perforierungen unterbrochen.

 

(2) Der Beklagte kann sich seiner Gewährleistung nicht mit dem Argument entziehen, die Finishlackierung sei bauseits, also vom Kläger vorgesehen gewesen bzw. der Kläger hatte sie veranlassen müssen, um die Ausgleichskonzentration des Formaldehyds in der Raumluft unter den Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO zu bringen. Wie der Sachverständige bei seiner Anhörung vor dem Senat überzeugend dargelegt hat, kann bei einer allseitigen Beschichtung schon ein einziges Nagelloch dazu führen, das der Formaldehydgehalt der Luft wieder erheblich ansteigt. Das bedeutet, Platten einschließlich aller Perforationen nicht verhindern kann, dass der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO überschritten wird.

 

Denn nach der Lebenserfahrung ist es nicht auszuschließen, dass durch ein Nagelloch oder, was im Alltag viel häufiger vorkommt, durch eine Unachtsamkeit die Lackierung an einer kleinen Stelle der Schrankwand oder der Einlegeböden beschädigt wird und dadurch, für den Verbraucher meist unbewusst, solche Mengen von Formaldehyd in die Raumluft entweichen, dass der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO überschritten wird. Allein dieser Umstand, nämlich das die vollflächig beschichteten Spanplatten der Möbelstücke schon aufgrund einer kleinen Beschädigung des Lackfinihs zu überhöhten Ausgleichskonzentrationen des Formaldehyds führen können, ist nach Ansicht des Senates ausreichend, einen Fehler der Möbelstücke im Sinne des Fehlerbegriffs des § 633 Abs. 1 Fall 2 BGB zu bejahen.

Ist Formaldehyd in der Raumluft?

Denn nach der allgemeinen Verkehrsanschauung ist davon auszugehen, dass Menschen nicht in einem Raum leben oder sich darin aufhalten wollen, dessen Möbel aus Holzwerkstoffen gefertigt sind, die bei der kleinsten Beschädigung überhöhte Ausgleichskonzentrationen des Formaldehyds in der Raumluft verursachen können. Solche Einrichtungsgegenstände sind als minderwertig und damit als fehlerhaft zu klassifizieren. Infolgedessen kommt es für die Gewährleistung des Beklagten nicht darauf an, ob eine vom Kläger zu veranlassende Lackierung sämtlicher Teile der Schrankwände eine unzulässige Emission vermieden hätte. Erst recht brauchte sich der Kläger unter diesen Umständen nicht auf die vom Beklagten angebotene Nachbesserung einzulassen, nachträglich sämtliche Teile der Schrankwände zu lackieren oder sonst wie abzudichten.

 

c) Die Mangelhaftigkeit der vom Beklagten hergestellten beiden Schrankwände ist nicht deshalb zu verneinen, weil nach der vom Sachverständigen in dessen 2. Ergänzungsgutachten ermittelten Prüfkammerwerten mit 0,14 ppm (Rückwand) und 0,08 ppm (Tür) die Rückwände und insbesondere die Türen weniger belastet sind und nach den vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit den 0,1 ppm - Wert unterschreiten. Inwiefern diese Schlussfolgerung in Bezug auf die Rückwand zutrifft, die mit einem Wert von 0,14 ppm den Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO überschreitet, kann dahin gestellt bleiben.

 

Denn der gerichtliche Sachverständige hat zur Überzeugung des Senates weiter festgestellt, dass insbesondere die in den Schrankwänden mit Lochreihen versehenen Seitenwände gemeinsam mit den Einlegeböden eindeutig als Verursacher für die deutlich überhöhte Formaldehyd- Raumluftkonzentration in Betracht kommen, die der Sachverständige zusätzlich mit Hilfe eines DESAGA - Gasprobennehmers gemessen und mit 0,30 ppm bestimmt hat. Selbst wenn man zugunsten des Beklagten davon ausgeht, dass die im Schlafzimmer des Beklagten befindliche Ausgleichskonzentration des Formaldehyds nicht nur von den bislang behandelten Schrankwänden, sondern auch von weiteren, bislang nicht untersuchten Quellen verursacht wird, hat der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass angesichts der besonders hohen Emissionen der Seitenteile und Einlegeböden die Anforderungen des § 9 Abs. 3. S. 1 GefStoffVO nicht erfüllt werden.

 

Denn für die Entstehung eines erhöhten Raumluftimmissionsniveaus reiche es bereits aus, wenn nur einzelne Teile eines Möbels erhöhte stoffspezifische Emissionen aufweisen. Der Umstand, dass die Werte für Rückwand und Tür erheblich niedriger sind als die für Seitenwände und Einlegeböden, spricht auch nicht gegen das vom Sachverständigen praktizierte Prüfkammerverfahren an sich. Denn der Sachverständige hat für das Auftreten solcher Differenzen einen plausiblen Grund angegeben, nämlich die Tatsache, dass bei der Möbelfertigung häufig mit verschiedenartigen Materialien gearbeitet wird. Im übrigen ist der besonders niedrigere Wert bei der Tür auf die Tatsache zurückzuführen, dass dieses Teil im Gegensatz zu den übrigen untersuchten Teilen der Schrankwände eine Finishlackierung hat.

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