Formaldehyd übersteigt den Grenzwert

Auf die Berufung des Klägers wird das am 25. Mai 1988 verkündete Urteil der 23. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 23 O 58/88 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

 

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 7.494,38 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 8.2.1988 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten der Streithilfe tragen der Kläger zu 2/3 und der Streithelfer zu 1/3. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger zu 2/3 und dem Beklagten zu 1/3 auferlegt. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsqründe:

Die zulässige Berufung hat im erkannten Umfange Erfolg. I. Der mit dem Klageantrag zu 1) geltend gemachte Zahlungsanspruch über 28.254,55 DM steht dem Kläger nur in Höhe eines Betrages von 7.494,38 DM zu. 1. Der Klageantrag zu 1) ist unbegründet, soweit der Kläger in erster Linie, gestützt auf § 635 BGB, einen Schadensersatzanspruch geltend macht.

 

Der Beklagte hat den vom Kläger behaupteten und hier zu seinen Gunsten unterstellten Sachmangel i.S.v. § 633 Abs. 1 BGB, nämlich eine erhöhte Ausgleichskonzentration des Formaldehyds in der Luft, verursacht durch die vom Beklagten bei dem Bau der beiden Schrankwände und des Bettes im Schlafzimmer des Klägers und des Eckschranks vor dem Kücheneingang verwendeten beschichteten Spanplatten, nicht zu vertreten (§ 276 Abs. 1 BGB), was der Tatbestand des § 635 BGB voraussetzt.

Ausgleichskonzentrationen in der Raumluft

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der Beklagte weder bei Abschluss der drei Werk- bzw. Werklieferungsverträge (§ 651 Abs. 1 S. 2 Halbs. 2. Abs.2 BGB noch bei Ausführung bzw. Abnahme seiner Leistungen Ende 1986/Anfang 1987 bzw. im Frühjahr 1987 wissen musste, dass die hier fraglichen Spanplatten generell oder je nach ihrer Verarbeitung (z.B. nach Zerschneiden). Ausgleichskonzentrationen in der Raumluft verursachen konnten, die - was noch unten auszuführen sein wird - den gemäß § 9 Abs. 3 der am 1.10.1986 in Kraft getretenen Gefahrstoffverordnung vom 28.8.1986 (BGBl. I 1470) - GefStoffVO - zulässigen Grenzwert von 0,1 ml/cbm (ppm = pars pro million) - gemessen in der Luft eines Prüfraums - überschritten.

 

Das gilt auch dann, wenn das Trägermaterial möglicherweise den Anforderungen der - jedenfalls für das Bauordnungsrecht als "allgemein anerkannte Regeln der Technik (vgl. § 3 Abs. 3 BauO NW) - maßgeblichen ETB-"Richtlinie über die Verwendung von Spanplatten hinsichtlich der Vermeidung unzumutbarer Formaldehydkonzentrationen in der Raumluft" (Fassung 1980) entsprach, gemessen aufgrund eines der beiden in der ETB-Richtlinie vorgesehenen und damals praktizierten Prüfverfahrens (Prüfkammerverfahren oder Perforatorverfahren {DIN EN 120]).

 

Der vom Senat beauftragte Sachverständige von der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) hat sowohl in seinem schriftlichen Hauptgutachten vom 4.7.1989 als auch bei seiner Anhörung vor dem Senat in der letzten mündlichen Verhandlung überzeugend ausgeführt, dass die messtechnischen Diskrepanzen, die in Bezug auf die Feststellung des nach § 9 Abs. 3 GefStoffVO höchstzulässigen Grenzwertes - dieser gilt nach § 9 Abs. 4 GefStoffVO auch für Möbel, die mit Holzwerkstoffen in den Verkehr gebracht werden, die unter § 9 Abs. 3 GefStoffVO fallen - zwischen der genannten ETB-Richtlinie und der Prüfung nach § 9 Abs. 3 GefStoffVO auf der Grundlage der heutigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse bestehen, seinerzeit noch nicht allgemein bekannt gewesen sind.

Anwendung des Prüfkammerverfahrens (Referenzverfahren)

Damals seien die - auch vom Beklagten verwandten - Plattentypen der Emissionsklasse "E 2" - so der Sachverständige in seinem 2. Ergänzungsgutachten vom 25-11-1000 (s. 5) im Fachschrifttum noch als ausreichend im Sinne der ETB-Richtlinie und der Gefahrstoffverordnung angesehen worden. Erst im Laufe des Jahres 1987, vornehmlich nach dem Hearing am 5./6. November 1987, seien die Probleme in Bezug auf den Umstand, dass das Zerschneiden der Platten die Schutzwirkung der aufgebrachten Beschichtung behindert und dadurch erhöhte Ausdünstungen von Formaldehyd auftreten. können, publik geworden.

 

In der einen Schreinermeister zugänglichen Literatur seien die hier fraglichen Probleme noch nicht angesprochen worden. Der Senat hat keine Bedenken, diesen und den weiteren Feststellungen des Sachverständigen zur heutigen Anwendung des Prüfkammerverfahrens (Referenzverfahrens) zu folgen. Der Sachverständige hat sich als Mitarbeiter der BAM und durch seine ‚zahlreichen Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Formaldehyd - Konzentrationen und Holzwerkstoffen als besonders fachkundig erwiesen. Der Senat folgt sein Ausführungen uneingeschränkt. Unter den genannten Umständen kann dem Beklagten kein Vorwurf gemacht werden, dass er bei der Herstellung und dem Einbau der Schrankwände, des Bettes und des Eckschrankes Spanplatten verwendete, die nicht den Grenzwert des § 9 Abs. 3 GefStoffVO erreichen.

 

Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, jedenfalls von den Parteien nicht vorgetragen, dass die seitens der Streihelferin an den Beklagten gelieferten und von der Firma hergestellten Spanplatten Span-Perfect, auf die bei ihrer Herstellung mittels eines Harnstoffleims eine Grundierfolie aufgetragen wurde, bereits bei früheren Lieferungen besonders auffällig gewesen wären, etwa besonders starke Geruchsbelästigungen verursacht hätten, die für den Beklagten hätten Anlass sein können, seinerseits eine Überprüfung der Spanplatten in Bezug auf den höchstzulässigen Grenzwert der Formaldehyd-Konzentration zu veranlassen. Die Produkte der Herstellerin werden nach deren eigenen Angaben im Schreiben vom 15.9.1987 aufgrund eines Fremdüberwachungsvertrages mit dem Institut für Holzforschung durch halbjährliche Messungen überprüft.

Zulässiger Grenzwert von Formaldehydkonzentrationen

Nach dem Verteiler zum Schreiben der BAM von 22.12.1987 gehört die Herstellerin auch zu den von dieser Anstalt betreuten Firmen. Bei dieser Sachlage kann nicht angenommen werden, dass die Herstellerin regelmäßig Spanplatten mit Formaldehydkonzentrationen herstellt, die den zulässigen Grenzwert übersteigen. Wie der Sachverständige in seinem Hauptgutachten (S. 24) ausgeführt hat, war es im hier fraglichen Zeitraum Ende 1986/Anfang 1987 auch nicht gewerbeüblich, dass Schreinermeister von sich aus Spanplatten auf Formaldehydemissionen prüften.

 

Deshalb kann dem Beklagten wegen einer solchen unterlassenen Untersuchung kein Schuldvorwurf gemacht werden. Da der Beklagte den behaupteten Mangel nicht zu vertreten hat, stehen dem Kläger keinerlei Schadensersatzansprüche aus § 635 BGB zu. Sonstige auf Schadensersatz gerichtete Anspruchsgrundlagen scheiden ersichtlich aus.

 

 2. Der Kläger ist gemäß § 634 Abs. 1, 4 BGB i.V.m. § 472 BGB berechtigt, vom Beklagten die an diesen gezahlte Vergütung für die Herstellung, Lieferung und Montage der beiden Schrankwände von 11.977,87 DM in voller Höhe zurückzuverlangen.

 

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob der vom Kläger erstmals in der Berufungsinstanz hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Minderung der gezahlten Werklohnforderung (§ 634 BGB) gegenüber dem in erster Linie verlangten Schadensersatzanspruch aus § 635 BGB einen eigenen Streitgegenstand darstellt oder ob dieses Klagebegehren lediglich als Hilfsvorbringen zu qualifizieren ist. Sieht man in der Geltendmachung des Minderungsanspruchs einen eigenen Streitgegenstand, ist die nachträglich vorgenommene Klageänderung (§ 263 ZPO) durch rügeloses Einlassen des Beklagten (§§ 267, 523 ZPO) zulässig geworden.

 

b) Die beiden Schrankwände sind mit einem Sachmangel i.S.v. & 633 Abs. 1 BGB behaftet. Die von ihnen verursachte Ausgleichskonzentrationen des Formaldehyds in der Luft erreicht Werte, die jenseits der Toleranzgrenze liegen.